Du kannst es nicht mehr hören? Überall dieses „Achtsamkeit“-Gedöns?
Verstehe ich gut. Denn Achtsamkeit ist ein Schlagwort, das mittlerweile für vieles herhalten muss.
Ich weiß nicht, wie es Dir geht, aber ich habe ja so einen kleinen Rebell in mir, der oft (nicht immer) dazu neigt, die meisten Trends erstmal doof zu finden. So aus Prinzip.
Und ja, bei der Achtsamkeit hat er sich auch gemeldet. Anfangs.
Doch seitdem ich mich mit Digital Detox beschäftige, komme ich um das Thema nicht herum. Weil ich glaube, das Achtsamkeit einer von vielen Wegen sein kann, sich von digitalen Geräten und Medien unabhängiger zu machen.
Ein höchst individueller Weg. Denn Achtsamkeit kann jeder so leben, wie er/sie es möchte.
Achtsamkeit kann helfen, genauer hinzuspüren. Also auch dabei, herauszufinden, was uns eigentlich antreibt, wenn wir so viel Lebenszeit mit Smartphone und Co. verbringen. Sie kann helfen, unsere (digitalen) Gewohnheiten zu hinterfragen und zu ändern.
Weil praktizierte Achtsamkeit uns selbst ändert. Mit der Zeit. Von ganz allein.
Das zumindest behauptet Anja Neuberg. Sie betreibt den Blog „Leben ist ansteckend“.
Als sie sich vor einigen Jahren unerwartet mit einer Depression auseinandersetzen musste, fand die Achtsamkeit zu ihr, wie sie sagt. Sie hat ihr zu einem neuem Lebensgefühl verholfen – und zu weniger digitalem Stress. Heute hilft Anja als zertifizierte Achtsamkeitstrainerin und Stresscoach Anderen beim Loslassen und Ankommen.
Mit ihr habe ich darüber gesprochen, was Achtsamkeit für sie bedeutet, welche positiven Effekte sie auf unser Leben haben und wie sie uns dabei helfen kann, mehr digitale Balance in unser Leben zu bringen. Dazu hat sie mir unter anderem eine einfache, aber wirksame Übung verraten.
Liebe Anja, gab es bei Dir einen konkreten Auslöser, warum Du angefangen hast, Dich mit Achtsamkeit zu beschäftigen?
Ja, den gab es tatsächlich – und zwar in Form einer Krise, die im Herbst 2014 ihren Höhepunkt fand. Zu dieser Zeit nämlich brach ich inmitten meines scheinbar erfolgreichen und glücklichen Lebens zusammen und fand mich mit der Diagnose „schwere Depression“ konfrontiert. Ich, die doch eigentlich immer gute Laune hatte, eigentlich immer alles gewuppt bekam! Und da saß ich nun. Verzweifelt, traurig, wütend auf mich selbst und geplagt von schier endlosen Grübeleien darüber, was für ein Versager ich doch war … Und genau in dieser Phase fand mich ein Bericht über Achtsamkeit. Er lief damals im TV und ich weiß noch, dass mir beim Anschauen Tränen übers Gesicht liefen. Und so machte ich mich auf den Weg. Den Weg zu mir.
Was macht Achtsamkeit für Dich persönlich aus?
Für mich ist Achtsamkeit keine „Technik“ oder „Methode“, die schnelles Wohlergehen verspricht. Es ist vielmehr eine Haltung zum Leben, die sich entwickelt, indem man praktiziert. Achtsamkeit zu üben, strebt nach nichts. Durch die regelmäßige Praxis der Achtsamkeit verändert sich so vieles – zum Beispiel der Umgang mit digitalen Medien oder auch mit Kochen und Essen, Kommunikation, Laufen ... also mit den verschiedensten Lebensbereichen – einfach so. Weil Du Dich veränderst.
Früher war es oft so, dass ich mir Sorgen gemacht habe um die Zukunft oder über Vergangenes gegrübelt habe. Ich hatte deshalb viele (Selbst-)Zweifel, Ängste, Sorgen, die mein Leben durchzogen. Dabei weiß doch keiner von uns, was die Zukunft bringt. Und Vergangenes ist vorbei, man kann es nicht mehr ändern, so viel man auch darüber nachdenkt. Daher ist es einzig und allein der Moment, den wir haben. Genau diesen bewusst zu (er)leben, urteilsfrei und mit allen Sinnen, das lehrt mich die Praxis der Achtsamkeit. Und das macht sie auch für mich persönlich aus.
Achtsamkeit ist ja momentan ein regelrechter Hype. Was in unserem heutigen Leben führt dazu, dass sich immer mehr Menschen in Achtsamkeit üben wollen?
Genau kann ich Dir diese Frage natürlich nicht beantworten. Ich könnte mir jedoch vorstellen, dass es eine tiefe Sehnsucht der Menschen nach innerem Frieden, innerer Ruhe gibt. Gerade, weil wir alle erleben, wie rasend schnell die Dinge sich im Außen entwickeln. Viele von uns überfordert diese Geschwindigkeit vielleicht – bei mir war das jedenfalls so. Ich fühlte mich getrieben, irgendwie hilflos, den Erwartungen und der Geschwindigkeit dieses Lebens ausgesetzt. Achtsamkeit zu üben, hat mir dabei geholfen, aus diesem Reagieren aufs Leben rauszukommen und Raum zu schaffen, damit Klarheit entstehen kann. Darüber, wer ich bin und wie ich mein Leben gestalten möchte.
Wie können wir achtsamer werden und was bringt es uns, achtsam zu sein?
Nun, die meiste Zeit unseres Lebens verbringen wir im sogenannten „Autopilot“. Wir handeln unbewusst, nach gelernten Mustern. Nimm zum Beispiel das Autofahren: Kannst Du Dich noch an Deine erste Fahrstunde erinnern? Und heute? Wie fährst Du heute Auto? (lacht)
Üben wir Achtsamkeit – zum Beispiel durch Meditation – treten wir aus dem Unbewusstem, dem Autopilot, heraus.
Bei einer Achtsamkeitsmeditation (auf meiner Website kann man sich kostenlos eine anhören, dort einfach mal in die Seitenleiste schauen) lassen wir unter anderem alle auftauchenden Gedanken in einer freundlichen, offen und wertfreien Haltung zu und beobachten sie – jedoch ohne uns in sie zu verstricken. Die Gedanken kommen, wir nehmen sie wahr und lassen sie wieder los. Tun wir dies immer und immer wieder, beruhigt sich unser Geist quasi „ganz nebenbei“… ohne, dass wir explizit darauf hinarbeiten.
Außerdem bringen wir in der Rolle des „aufmerksamen Beobachters“ unserer Gedanken mehr und mehr Distanz zwischen die Gedanken und uns. Wir erkennen, dass wir mehr sind als das, was im Moment in uns vorgeht. Wir lernen, zu beobachten, was da abläuft – bleiben jedoch handlungsfähig und werden nicht mehr „automatisch“ Opfer unserer unbewussten Muster.
Achtsamkeit kann uns also dabei helfen, die eigenen Gedanken zu erforschen und unheilsamen Denkweisen auf die Spur zu kommen.
Inwiefern hilft uns das bei der heutigen digitalen Reizüberflutung bzw. in unserem von Digitalem bestimmten Leben?
Wie gesagt, das Praktizieren von Achtsamkeit stellt eine wunderbare Möglichkeit dar, raus aus dem „Autopilot“ und rein ins Hier und Jetzt zu kommen. Früher war mein erster Griff morgens zum Handy. Automatisch. Zack. Dann Kaffee trinken mit Handy … und wenig später ging es dann gehetzt (weil ich zu lange im Internet unterwegs gewesen war), mit halb offener Jacke und tausend Gedanken im Kopf Richtung Auto und ab zur Arbeit. Und so zog sich das durch den Tag.
Ich war „automatisch“ unterwegs, auch online. Nur da, wo sich mein Leben tatsächlich abspielte, im Hier und Jetzt, war ich immer weniger...
Achtsamkeit zu üben, hat mir da raus geholfen und mich gelehrt, dass ich so viel mehr bin als beispielsweise all meine Gedanken über Instagram, Follower, Kommentare und das Internet überhaupt. (lacht) Und daher weiß ich aus eigener Erfahrung, dass die Praxis der Achtsamkeit uns zu einem selbstbestimmten (digitalen) Leben verhelfen kann.
Das klingt gut! Kannst Du konkrete Situationen nennen, in denen wir in unserem digitalen Leben nicht achtsam mit uns umgehen – vielleicht auch aufgrund von Glaubenssätzen?
Ein konkretes Beispiel von mir: Anfangs war ich total gern auf Instagram unterwegs. Es faszinierte mich – als Zuschauer, Leser und Akteur gleichermaßen. Und ja, es flutschte auch. Die Bilder ergaben sich aus schönen Erlebnissen, die Texte dazu sprudelten aus mir heraus. Es war wunderbar. Instagram war ein Ort, an den ich bewusst ging, um mich inspirieren zu lassen, mich kreativ auszudrücken und in Austausch zu gehen.
Doch nach einer Weile veränderte sich etwas. Es tauchten Gedanken auf wie:
„Ich muss ja noch was auf Instagram posten!“ oder auch „Ich hab nix zum Posten auf Instagram! Mensch, die anderen schaffen das doch auch! Was ist das Problem? Warum krieg ich das nicht hin? Was mache ich falsch?“
Dazu verspürte ich starke Verspannungen im Schulterbereich, Hitzewallungen und Magengrummeln. Ich schaute genauer hin. Was war da los? Was wollten mir diese Gedanken, diese Körperempfindungen sagen?
Es war ein alter Glaubenssatz, der angefangen hatte, mein Handeln zu bestimmen: „Ich bin nur liebenswert, wenn ich leiste!“ Und so leistetet und leistete und leistete ich auf Instagram. Und jedes Herzchen gab mir die Bestätigung: "Ja! Liebenswert!" Und wenn es nicht kam, war da Verunsicherung, manchmal auch die Angst, nicht mehr gemocht zu werden. Also schob ich gleich noch einen Post hinterher. Obwohl ich keinen Bock hatte. Spaß schon gar nicht. Und müde war. Eine Pause gebraucht hätte. Kind und Mann vertrösten musste.
Mir dessen bewusst zu werden, war der Schlüssel für mich, um wieder in einen bewussten Umgang mit dieser Plattform zu finden und Instagram als bereicherndes Werkzeug zu begreifen. Als bereicherndes Werkzeug für kreativen Austausch. Und eben nicht als Ort, um Bestätigung zu bekommen.
Wie gehst Du denn generell mit digitalem Stress um?
Ich nehme mir zum Beispiel bewusst digitale „Auszeiten“. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass es mir gut tut und auch wunderbar dazu beiträgt, einen selbstbestimmten (digitalen) Alltag zu leben. Vielleicht möchten das Deine LeserInnen ja auch einmal ausprobieren – ganz so, wie es für sie gerade passt. Das kann zum Beispiel abends ab 20 Uhr sein (um gut und ruhig in den Schlaf zu kommen) oder auch immer sonntags (um dann ganz bewusst Familienzeit o.ä. leben zu können). Es gibt so viele Möglichkeiten, auf die man sich einfach mal einlassen kann.
Ja, handyfreie (Zeit-)Räume sind auch Bestandteil meiner fünf kostenlosen Digital-Detox-Tipps, weil sie sich mit ein bisschen Konsequenz leicht umsetzen lassen und sehr effektiv sind. Und hast Du noch andere Tipps oder Übungen, wie wir in dem Zusammenhang achtsamer sein können?
Ich mache mir einfach keinen digitalen Stress mehr. Innere Ruhe und Gelassenheit sind nämlich wunderbare „Nebeneffekte“, die sich einstellen, wenn man Achtsamkeit praktiziert. Das Prinzip „Wenn ich das mache, dann passiert das“ funktioniert für mich hier nicht. Man arbeitet nicht explizit darauf hin, sie passieren einfach im Zuge dessen. Man spricht in diesem Zusammenhang auch oft davon, dass man ziellos zum Ziel gelangt.
Wie aber nun kann man Achtsamkeit üben? Nun, indem man verschiedene Übungen in das eigene Leben integriert. Das „Geheimnis“ liegt dabei darin, es regelmäßig zu tun.
Hier mal eine Übung für Dich und Deine LeserInnen: die „3-Minuten-Atemraum-Übung“ – eine kleine Achtsamkeitsübung, die sich gut in jeden Alltag integrieren lässt und dabei hilft, in stressigen Situationen in Kontakt zu mit Dir zu kommen.
Sie funktioniert folgendermaßen:
Aufmerksam werden
Was immer Du gerade tust: Unterbreche Deine Tätigkeit für drei Minuten, setze Dich auf einen Hocker oder Stuhl und nimm eine aufrechte Haltung ein.
Du kannst Deine Augen schließen oder offen lassen – je nachdem, wie es sich angenehmer für Dich anfühlt.
Und nun stelle Dir folgende Fragen: Was nehme ich in diesem Moment wahr? Welche Gedanken sind da? Welche Gefühle? Welche Körperempfindungen?
Einfach beobachten. Ohne Wertung. Ohne etwas anders haben zu wollen.
Sich mit dem Atem verbinden
Lenke Deinen Fokus nun auf Deinen Atem.
Wie fühlt er sich an? Wo spürst Du ihn am deutlichsten? Im Bauch vielleicht? Oder in der Brust?
Den Atem nicht verändern. Nur wahrnehmen. Einatmen. Ausatmen. Und durch den Atem im Hier und Jetzt ankommen.
Aufmerksamkeit ausweiten
Erweitere Deine Aufmerksamkeit nun vom Atem auf Deinen gesamten Körper, Deine Haltung, Dein Gesicht.
Öffne Dich für alles, was jetzt, in diesem Moment, da ist.
Atme noch einige Male achtsam ein- und aus und nimm die Stille der Präsenz mit in die weiteren Aktivitäten Deines Tages.
Super, diese Übung hilft sicherlich auch, wenn wir uns vor lauter Reizüberflutung nicht gut konzentrieren können. Und was empfiehlst Du, wenn wir uns darüber hinaus mit Achtsamkeit beschäftigen möchten?
Ich persönlich glaube ja, dass Achtsamkeit Dich findet. So war es auch bei mir. Und wenn Deine LeserInnen dieses Interview lesen, dann hat sie die Achtsamkeit ja auch in gewisser Weise schon gefunden. (schmunzelt)
Darüber hinaus möchte ich Dich und Deine LeserInnen dazu einladen, eigene Erfahrungen mit Achtsamkeit zu machen. Sich auf die Reise zu begeben, auch, wenn mir bewusst ist, dass viele von uns dazu neigen, sich neuen Themen kognitiv zu nähern.
Im Internet findet sich mittlerweile eine Vielzahl an Angeboten zu Achtsamkeitskursen, wobei ich persönlich darauf achten würde, wie viele Stunden die Ausbildung des/der TrainerIn umfasst hat (zum Vergleich: bei mir waren es 770 Stunden Fachausbildung in anderthalb Jahren), wie lange er/sie selbst praktiziert und ob er/sie im Vorfeld des Kurses ein kostenfreies Vorgespräch anbietet. Gerade dieses Vorgespräch halte ich für wichtig, um bereits VOR dem Kursbeginn ein Gefühl füreinander zu bekommen, gegenseitige Erwartungshaltungen auszuloten und gemeinsam herauszufinden, ob ein Achtsamkeitskurs in der aktuellen Lebensphase tatsächlich das Richtige ist.
Liebe Anja, ich danke Dir für dieses inspirierende Interview!
Wenn Du mehr über Anja und ihre Arbeit als Achtsamkeitstrainerin erfahren möchtest, schau auf ihrer Website vorbei. Dort wird sie demnächst auch (wieder) Coachings, Kurse und entspannende Kurzurlaube in der Natur anbieten.
Wie viel Achtsamkeit lebst Du in Deinem Leben? Wie praktizierst Du sie? Verrate mir gern mehr in den Kommentaren!