Gestern war ich im Drogeriemarkt und wollte nur schnell ein neues Shampoo kaufen.
Und da stand ich. Vor einem fünf Meter langen Regal. Von oben bis unten vollgestopft mit Shampooflaschen.
Du kannst Dir denken, dass "nur mal schnell" etwas länger dauerte. Gott sei Dank brauchte ich nicht auch noch ein neues Duschgel ...
Vor einem Regal zu stehen und den Überblick zu verlieren – das kennst Du sicher.
In dieser Situation zeigt sich, was mit "Überflussgesellschaft" gemeint ist.
Denn mal ehrlich: Wer braucht gefühlt 100 unterschiedliche Shampoos (wobei sie wohl gar nicht so unterschiedlich sind)? Sie sind Ausgeburten aus der Produkt- und Werbehölle, um Bedürfnisse zu schaffen, die vorher gar nicht da waren. Um noch mehr zu verkaufen.
Mein Lieblingszitat aus der Marketingvorlesung ist deswegen bis heute:
Wir kaufen Dinge, die wir nicht brauchen, von Geld, das wir nicht haben, um Menschen zu beeindrucken, die wir nicht mögen.
Keiner weiß so genau, von wem es ist, aber es ist wahr. Bei dem einen mehr, dem anderen weniger.
Wenn Du Dich nun fragst, was das mit Digital Detox zu tun hat: Ich widme mich in diesem Artikel einem Phänomen, das zwar schon lange existiert, sich durch die Digitalisierung aber massiv verstärkt hat.
Darf ich vorstellen: das Auswahl-Paradox - oder wie es im Englischen treffender heißt:
The Paradox of Choice
Der US-Psychologe Barry Schwartz hat in seinem gleichnamigen Buch die These aufgestellt, dass Menschen es attraktiv finden, eine große Auswahl zu haben, weil sie das mit (Wahl-)Freiheit verbinden.
So weit, so gut. Schwartz behauptet aber auch, dass eine zu große Auswahl die Menschen nicht happy, sondern meist unzufriedener macht und überfordert .1
Ähnlich argumentiert auch Bas Kast, der vor einigen Jahren ein Buch mit dem großartigen Titel "Ich weiß nicht, was ich wollen soll" geschrieben hat.
Und so erklärt sich das Paradox: Wir finden es natürlich prima, wenn wir frei in unseren Entscheidungen sind und eine Wahl haben – ein Privileg, dass wir vor allem in den westlichen Konsumgesellschaften genießen.
Viele Studien sagen jedoch, dass wir über die letzten Jahrzehnte unglücklicher geworden sind.2 Und das, obwohl es uns in vielerlei Hinsicht besser geht als je zuvor.
Heute haben wir bei allem die Wahl, können selbst entscheiden. Und trotzdem sind wir unzufriedener. Unlogisch, oder?
Nein, sagt Schwartz.
Wissenschaftliche Experimente haben nämlich ergeben, dass die Leute zwar gern die Wahl haben. Aber wenn die Auswahl immer größer wird, gibt es irgendwann einen Punkt, an dem die Stimmung kippt. Dann sind wir von zu vielen Möglichkeiten überfordert.3
Das führt entweder dazu, dass wir uns wie gelähmt fühlen und gar keine Entscheidung mehr treffen können.
Oder aber wir entscheiden uns und fühlen uns danach oftmals schlecht damit. Das kann drei Gründe haben:
- Wir befürchten, dass wir uns womöglich falsch entschieden haben – es hätte ja irgendwo noch etwas Besseres, Billigeres etc. geben können.
- Oder wir sind angefressen, weil wir durch unsere Wahl auf die Alternativen verzichten müssen.
- Oder aber wir sind trotz einer an sich guten Entscheidung unzufrieden, weil die große Auswahl unsere Erwartungen hochgeschraubt hat und das, für was wir uns entschieden haben, diesen hohen Erwartungen – obwohl es gut ist! – nicht gerecht wird.
Ganz schön absurd, was?
Mir fallen dazu spontan zwei Beispiele ein:
Mediatheken und Video-Streaming-Angebote sind ja eine großartige Sache – aber kennst Du das, wenn Du fast genauso lange brauchst, einen Film auszusuchen wie ihn anschließend zu gucken? Und dann kommt es oft sogar so, dass ich mittendrin oder hinterher denke: Na, soo toll war der nun auch nicht, hätte ich mal den anderen angeschaut! Das große Angebot vergrößert also auch meine Erwartungshaltung (die ich in dem Maße beim normalen Fernsehen nicht habe).
Zweites Beispiel: In meinem "früheren" Leben war ich Reiseverkehrskauffrau und am Ende der Ausbildung flogen wir mit der Berufsschulklasse nach Ägypten. Nilkreuzfahrt und Badeaufenthalt am Roten Meer. Im Flugzeug meinte ein Passagier zu uns, dass wir als Gruppe die Reise ja bestimmt günstiger bekommen hätten.
Die Wahrheit war: Wir hatten für den gesamten Trip noch keine 200 DM bezahlt. Weil der Veranstalter, bei dem ich arbeitete, die Reise weitgehend spendiert hatte. Das haben wir dem Fluggast aber nicht gesagt, weil wir die Befürchtung hatten, dass er seinen Urlaub dann weniger genießen konnte.
Vor ein paar Jahren gab es eine ähnliche TV-Werbung, in der sich Passagiere an Bord mit Billigflugpreisen übertrumpften und die, die mehr gezahlt hatten, sich ärgerten.
Genau das meint Barry Schwartz: Anstatt sich über den Urlaub zu freuen, ärgern sich Touris, weil sie ihn nicht zum günstigsten Preis bekommen haben.
Freiheit bedeutet, Entscheidungen zu fällen – und das ist gar nicht so einfach
Vorweg: Ich liebe es, in einer Demokratie zu leben. Und ich bin froh, dass ich eine Welt hineingeboren wurde, in der ich eine Wahl habe. In der ich im Grunde genommen sogar jeden Tag neu entscheiden kann, wer ich sein will.
Aber das bringt auch Verantwortung und Druck mit sich. Denn wir haben Angst davor, uns falsch zu entscheiden.
Das "Doofe" ist nämlich: Wenn wir keine Wahl haben, weil jemand anderes für uns entscheidet, können wir eine Fehlentscheidung ihm anlasten. Doch in einer Welt, in der wir mehr entscheiden und individueller sein können als je zuvor, sind wir selbst verantwortlich für unsere Wahl. Und das beschert vielen von uns schlaflose Nächte.
Und mit der Digitalisierung haben die Entscheidungen, die wir fällen dürfen oder müssen, massiv zugenommen.
Wenn aus viel (digitaler) Auswahl zu viel wird
Als ich auf die Welt kam, hatten wir drei Fernsehprogramme. Heute können wir jederzeit auf Abertausende von Filmen und Serien zugreifen – zu jeder Zeit, an fast jedem Ort.
Früher gab's den Telefonanschluss von der Post. Nur den. Heute gibt es Hunderte von Anbietern für Telefon, Internet und Mobilfunk. Mit zahllosen Tarifen.
Wenn ich eine neue Hose brauchte, ging ich damals in ein, zwei Geschäfte und suchte mir dort eine aus (oder auch nicht). Heute kann ich im Onlineshop zwischen 3.452 Hosen wählen.
Herrje!
Versteh mich nicht falsch. Ich will nicht wie meine Mutter klingen, die immer quäkt, dass früher alles besser war (sorry, Mum).
Es war nicht alles besser. Aber es war einfacher. Weil wir oft nicht die Wahl hatten.
Heute müssen wir alles selbst entscheiden. Und fühlen uns von vielen Optionen schlichtweg erschlagen. Und ja, das macht unser Leben komplizierter.
Denn es geht ja nicht nur um Kaufentscheidungen, mit denen wir rumplagen. Wochenlang Testurteile, Rezensionen (von denen wir nicht mal wissen, ob sie "echt" sind) und Preise studieren.
Auch beim Onlinedating, das heutzutage mehr mit Konsum als mit Liebe zu tun hat, schnappt die "Paradox of Choice"-Falle zu.
Denn wenn wir uns der Illusion hingeben, dass die 738 angeblich zu uns passenden Singles nur auf uns warten, dann kommen nicht wenige auf die absurde Idee, dass die Person, mit der er oder sie gerade schreibt, vielleicht ganz nett ist, es aber bestimmt noch ein besseres "Match" gibt. Mit einem der 737 anderen Profile.
Das Ende vom Liebeslied: Single-Dasein bis ultimo. Eine Entscheidung könnte ja falsch sein.
Ich sage ja nicht, dass eine sehr begrenzte Auswahl (zum Beispiel auf dem Dorf) unser Beziehungsleben besser macht. Aber wenn wir die Nadel im Heuhaufen suchen, dann finden wir sie bestimmt nicht schneller, indem wir in einem noch größeren Haufen wühlen.
Orientierungslos in der Flut der Informationen
Nicht zuletzt geht es beim "Zu viel" aber auch um Informationen, Meinungen.
Gerade als Journalistin ist mir Objektivität wichtig. Wenn ich recherchiere, versuche ich, das möglichst umfassend zu tun – aus mehreren Perspektiven, unterschiedlichen Quellen.
Aber auch ich bin überfordert mit der Fülle an Daten und Informationen. Wann habe ich ein Thema erschöpfend behandelt? Geht das überhaupt noch?
Schließlich muss ich entscheiden: Welche Infos nutze ich, welche nicht? Wann schließe ich meine Recherche ab?
Auch privat frage ich mich und Du Dich sicher auch: Welchen Infos kann ich trauen? Sind das wirklich alle Infos zu einem Thema? Oder nur die, von denen ein Algorithmus glaubt, dass sie mir gefallen?4
Entscheidungen über Entscheidungen.
In einem Artikel aus dem Jahr 2010 heißt es, wir träfen um die 100.000 am Tag.5 Heute sind es wahrscheinlich noch viel mehr. Schließlich ist es allein jedes Mal eine Entscheidung, ob wir unser Handy in die Hand nehmen, wenn es mal wieder blinkt.
Dabei entscheiden wir meistens nicht einmal rational. Die meisten Entscheidungsprozesse laufen unbewusst ab. Das ist oft auch ganz gut so, sonst würde unser Hirn überlastet.
Trotzdem: Wie sollen wir "richtig" liegen, wenn es doch so viele Möglichkeiten gibt, daneben zu greifen?
Ich glaube, darum geht es gar nicht.
Es geht nicht so sehr darum, wofür wir uns entscheiden. Sondern wie wir uns damit fühlen.
Denn es kann ja nicht sein, dass wir in einer freien (digitalen) Welt leben und trotzdem unglücklicher werden.
Okay, ich gebe zu, ich werde dieses Paradox mit diesem Artikel nicht auflösen können. Könnte ich das, wäre ich wahrscheinlich bald reich.
Aber ich möchte Dich mit ein paar Inspirationen hinaus in diese Welt schicken, die Dir vielleicht helfen, mit Deiner Wahlfreiheit und Deinen Entscheidungen besser umzugehen.
Beschränke Deine Auswahlmöglichkeiten
Wenn uns eine zu große Auswahl überfordert, ist es vielleicht ganz clever, dass wir sie selbst einschränken. Zum Beispiel, indem Du Dir vornimmst, nur in ein, zwei Onlineshops zu suchen statt in 20. Oder ganz "gewagt": Geh offline shoppen und wähle nur ein, zwei Läden aus.
Bist Du auf der Suche nach Informationen, beschränk Dich auf die ersten zwei Seiten von Suchergebnissen. Oder – was ich oft praktiziere und noch besser finde – überleg Dir vorher ein Zeitfenster und beende Deine Suche nach Ablauf der Zeit.
Auch wenn Du das Gefühl hast, dass Du dann nicht richtig informiert bist: In den seltensten Fällen findest Du ab einem gewissen Punkt noch DIE Info, die alles andere umwirft. Also verschwende nicht Deine wertvolle Lebenszeit damit, nach etwas zu suchen, was Du wahrscheinlich nicht finden wirst.
Kenne Deine Kriterien und nutze Filter
Ich rate das mit Bedacht. Denn ich habe es oben schon angesprochen: Algorithmen und Filter können uns auch in die Irre führen.
Aber wenn ich es so recht bedenke, dann gibt es für uns ohnehin keine "freie" Information. Eigentlich gab es sie nie, früher hatten wir wesentlich weniger Informationen als heute, und heute sind es so viele, dass Medien und Internetkonzerne für uns vorsortieren müssen, weil wir sonst gar nicht mehr durchblicken würden. Deswegen sind wir, sobald wir das Internet betreten, immer irgendwie eingeschränkt.
Insofern ist das Nutzen von Filtern (zum Beispiel in Onlineshops) eine praktikable Lösung, um unsere Auswahl einzuschränken. Frag Dich also, was Dir wichtig ist, und sortiere mithilfe des Filters aus.
Ich mache das übrigens gern bei Dingen, von denen ich keine Ahnung habe – Versicherungen zum Beispiel. Hier gibt es Portale, die das riesige Angebot nach Deinen Wünschen durchforsten. Mag sein, dass ich damit nicht alle Versicherungen auf dem Schirm habe, aber meine Lebenszeit ist mir wichtiger, als nach wochenlanger Sucherei drei Euro zu sparen.
Verabschiede Dich vom "Billiger, Besser, Schöner"
Besonders Social Media wie Facebook und Instagram entführen uns in eine virtuelle Welt, in der es niemals stürmt und regnet, sondern alles immer groß, toll und schön ist.
Auch wenn wir eigentlich wissen, dass das nicht die Realität ist, prägt es uns dennoch. Es schraubt unsere Erwartungen in die Höhe, lässt uns nach Perfektion streben und sorgt dafür, dass gut nie gut genug ist – und das macht unzufrieden und unglücklich!
Mach Dir also bewusst, ob das, was Du suchst bzw. für das Du Dich entscheidest, das ist, was DU WIRKLICH willst, und nicht das, von dem Du glaubst, Du müsstest es wollen. Da besteht oft ein großer Unterschied und es lohnt sich, gerade bei größeren Entscheidungen tief in sich hineinzuhorchen.
Übe Dich in Dankbarkeit
Das klingt vielleicht nach moralischer Keule, aber wenn ich mal wieder überfordert bin und mich aufrege, warum das alles so kompliziert sein muss, versuche ich, mir klarzumachen: Ich ärgere mich gerade mit einem Luxusproblem herum.
Dann denke ich an die vielen Menschen, die liebend gern eine Wahl hätten, aber in totalitären Staaten, in Armut oder in Gesellschaften, in denen sie zwangsverheiratet werden, leben.
Es gibt Millionen von Menschen, die keine Wahl haben. Und deswegen sollten wir dankbar sein, dass wir sie haben. Auch wenn sie uns bisweilen wahnsinnig macht.
Entscheide Dich und sei damit zufrieden
Ja, das klingt so einfach. Ich weiß, dass es nicht einfach ist.
Dennoch sollten wir uns nach einer Entscheidung auf deren Vorteile konzentrieren. Und nicht ständig darüber nachdenken, welche Alternativen uns durch die Lappen gehen könnten.
Ja, es wird vermutlich irgendwo irgendwie irgendwann etwas Besseres oder Günstigeres geben. Die Frage ist, ob wir es jemals gefunden hätten – und ob wir uns dann wirklich besser fühlen würden.
"Es gut sein lassen" ist kein leerer Spruch. Bestärke Dich also nach einer Wahl darin, warum sie für DICH richtig und gut war. Gib nichts darauf, was andere sagen. Ja, auch das ist leicht gesagt.
Aber es ist DEIN Leben, es sind DEINE Entscheidungen und sie sollen DICH glücklich machen. Vergiss das nicht.
Wie fällst Du Deine Entscheidungen und wie fühlst Du Dich damit? Ich bin gespannt auf Deinen Kommentar!
Fußnoten
- Wenn Du darüber mehr wissen willst, kannst Du Dir hier Barry Schwartz' TEDTalk anschauen. Witzig und hochinteressant!
- Das lässt sich im Buch von Bas Kast nachlesen.
- Als zentrale Studie zählt hier das Marmeladen- oder Konfitüren-Experiment. Es gibt aber auch einige Studien, die darauf hinweisen, dass uns eine große Auswahl nicht immer überfordert.
- Darüber schreibe ich übrigens auch in meinem Artikel "Warum Dich die digitale 'Fear of missing out' (FOMO) im Job ausbremst − und wie Du sie loswirst".
- Den Artikel über Intuition kannst Du hier nachlesen.
Toller Beitrag!
Danke! Freut mich, dass dir der Blogartikel gefällt. 🙂
Schön gesagt. Ich habe dieses Phänomen schon oft bei mir erlebt. Ich neige zu einer gewissen Sammelsucht bei Büchern, Spielen oder auch Notizbüchern (bin Autor neben meinem Job) und teilweise liegen die Bücher darum und ich will sie nutzen, weil sie da sind, ich aber keine Verwendung dafür habe. Oder ich lese zehn Bücher gleichzeitig oder sitze vor dem PC und starre Steam an, weil ich mich nicht entscheiden kann. Und kaufe trotzdem beim nächsten Sonderangebot. Ich glaube, tatsächlich sind einige von uns nicht gut gewappnet gegen die Algorithmen, die uns die Werbung unter die Nase reiben zum rechten Zeitpunkt. Umso wichtiger ist es, sich dessen bewusst zu werden. Am Ende ist man erschlagen von all den Dingen die man, oder um es anders zu sagen:"Alles was du hast, hat irgendwann dich." Ich glaube es ist gut, dass wir das langsam lernen.
Hallo Bruno, danke für deinen Kommentar und deine Offenheit. Ich denke, der erste wichtige Schritt ist, dass wir uns dessen bewusst werden. Erst, wenn wir unser Verhalten begreifen und reflektieren, haben wir auch die Möglichkeit, gegenzusteuern. Insofern viel Erfolg beim Lernen - ein nicht endender Prozess bei uns allen. 🙂