“Ich versuche, die Versuchung zu reduzieren” – Jasmin Schindler über Strategien in Zeiten digitaler Reizüberflutung

Foto von Jasmin Schindler im Interview über Strategien in Zeiten digitaler Reizüberflutung

Eigentlich habe ich es nicht so mit Labels und Schubladen, aber ja:

Ich bin hochsensibel.

Wenn es das überhaupt gibt. Wissenschaftlich bewiesen ist dieses Persönlichkeitsmerkmal nämlich noch nicht.

Tatsache ist aber: Viele Menschen, die sich als HSP (High Sensitive Person) bezeichnen, verbinden bestimmte Eigenheiten. So wie mich und meine Interviewpartnerin Jasmin Schindler.

Jasmin bloggt mit Patrick Hundt auf Healthy Habits unter anderem über Ernährung, Bewegung, Persönlichkeitsentwicklung ‒ und Hochsensibilität.

Dass sie selbst hochsensibel ist, hat sie eher durch Zufall herausgefunden. Seit diesem Aha-Erlebnis beschäftigt sie sich intensiv damit, tauscht sich mit anderen HSPs aus und hat über ihre Erkenntnisse und Erfahrungen das wunderbare Buch “Gestatten: Hochsensibel” geschrieben.

Vielleicht fragst Du Dich jetzt: Warum dieses “Outing”, Karo? Wozu dieses Thema und dieses Interview? Hier geht’s doch im Digital Detox.

Erstmal vorweg: Ich möchte nicht Hochsensibilität als solche zum Thema machen, sondern den Umgang mit der digitalen Reizüberflutung, die uns alle täglich herausfordert.

Hochsensible nehmen Reize aller Art ungefiltert und somit meist viel intensiver wahr. Also auch digitale Reize.

In einer Zeit, in der wir durch Smartphone & Co. permanent diesen Reizen ausgesetzt sind, ist für uns alle und besonders für Hochsensible wichtig, die eigenen Grenzen zu kennen und zu achten. Denn sonst droht eine Überreizung und uns wird alles zu viel.

Darum habe ich mit Jasmin darüber gesprochen, welche Strategien sie anwendet, um im Alltag die digitale Balance zu halten. Und diese Strategien halte ich für absolut hilfreich für uns alle. Egal, ob hochsensibel oder nicht.

 

Liebe Jasmin, was gefällt Dir an der Digitalisierung besonders?

Ich mag, wie bequem die Digitalisierung so manches macht. Dass ich nahezu jede Musik streamen oder von überall aus digitale Notizen aufschreiben und auf meinem Blog auch digitale Produkte vertreiben kann. Das alles ermöglicht es mir, selbstständig und frei wie ein Vögelchen zu leben, was ich jeden Tag genieße.

Wenn jemand sich nicht mit Hochsensibilität auskennt: Wie definierst Du sie für Dich?

Als Ausgangspunkt gilt ja häufig der relativ durchlässige Wahrnehmungsfilter. Das heißt, mehr Reize dringen durch, was Hochsensiblen ein besonderes Gespür beschert, ob für Farben, Details, Gerüche, Geräusche oder Körpersprache. Diese höhere Reizmenge kann aber auch zur Überreizung führen. Viele haben zum Beispiel mit Lärm Schwierigkeiten. Hochsensible lassen sich aber nicht über einen Kamm scheren. Man geht von 20 Prozent der Bevölkerung aus allein deshalb muss die Heterogenität groß sein.

Ist darum die digitale Reizüberflutung für HSPSs eine besondere Herausforderung?

Die digitale Reizüberflutung ist für alle Menschen schwierig. Hochsensible dürften besonders herausgefordert sein, weil ihr optimales Stimulationslevel (also die Reizmenge, mit der sie weder gelangweilt noch überfordert sind) niedriger ist als bei weniger Sensiblen. Das heißt, dass sie schneller überreizt sind, wenn das Handy ständig piept usw.

Allerdings kenne ich auch viele HSPs, die sich davon abschotten. Sie sind verhältnismäßig wenig im Internet aktiv, haben sich zum Teil bewusst gegen ein Smartphone entschieden und rufen nur selten ihre E-Mails ab. Sie schützen sich somit vor einer Reizüberflutung. Deshalb kann man nicht sagen, dass alle HSPs gleichermaßen ge- oder überfordert sind.

Was fällt Dir in Bezug aufs digitale Leben besonders schwer und wie gehst Du damit um?

Meine Arbeit findet komplett online statt. Deshalb gerate ich häufig in Versuchung, zu gucken, was es Neues gibt und wie die Menschen aufnehmen, was ich mache. Dieses Nachgucken ist spannend, aber häufig auch eine Form von Prokrastination.

Der zweite Punkt sind soziale Medien. Zwar ist mir ihr Suchtpotential bewusst, doch das allein macht mich nicht immun. Ich bin oft hin- und hergerissen zwischen vernunftbasierter Abstinenz und vernunftbasierter Selbstvermarktung. Das heißt, ich habe ein schlechtes Gewissen, dass ich mich zu viel in sozialen Netzwerken herumtreibe. Andererseits verlangt es mein Job, mich zu zeigen und ich denke oft: “Ich müsste mal wieder etwas bei Instagram oder Facebook posten.”

Hilfreich fand ich dazu die Ansichten des US-Professors Cal Newport (“Deep Work”): Er plädiert dafür, sich rar zu machen, sich also bewusst den sozialen Medien und der Flut von E-Mails zu entziehen. Denn beides lenke davon ab, was wichtig ist und Werte schafft: nämlich vertieftes Arbeiten. Wenn wir uns zu sehr davon abbringen lassen, verlernen wir irgendwann ganz, uns zu konzentrieren. Das gefährdet unsere Zufriedenheit und unser Potenzial auf dem Arbeitsmarkt. Wer hingegen sich die Fähigkeit zum vertieften Arbeiten bewahrt, hat einen großen Vorteil gegenüber anderen. Viele HSPs können sich ja besonders gut vertiefen. Das könnte in Zukunft eine noch wichtigere Ressource sein als jetzt.

Das passt ja zu Deinem Buch, in dem Du unter anderem über die Reduzierung des Inputs schreibst. Kannst Du das genauer erklären?

Ich versuche, die Versuchung zu reduzieren. Bei Facebook und Instagram abonniere ich nur sehr wenige Personen und Seiten. Somit muss ich weniger checken und kann weniger verpassen. Zudem habe ich nur wenige Apps auf meinem Handy und empfange dort keine E-Mails mehr. Ich habe auch schon Tools wie Freedom genutzt, um Seiten für eine gewisse Zeit zu blockieren. Außerdem lasse ich das Handy auch immer mal zu Hause, wenn ich spazieren gehe. Es hilft zu merken, dass die Welt davon nicht untergeht.

Viele Hochsensible konsumieren keine Nachrichten mehr. Für mich käme das nicht in Frage, denn ich will informiert sein. Kennst Du einen guten Mittelweg?

Ja, diese totale Abkehr sehe ich auch kritisch, obwohl ich sie vollkommen verstehen kann. Mein Mittelweg ist eine strenge Auswahl der Quellen, die ich konsumiere. Beispielsweise höre ich den Podcast “Die Lage der Nation”, dessen Episoden wöchentlich erscheinen. Diese etwa einstündige Folge verschafft mir einen Überblick über die wichtigsten Nachrichten. Was ich vermeide, sind Nachrichtenportale wie Spiegel etc., denn sie sind zu sehr auf Klicks und Sensation aus. Ich empfange auch schon lange keine “Eilmeldungen” mehr auf dem Handy, denn das macht mich wahnsinnig.

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Gerade ist auch das Ausmisten wieder in aller Munde. Wie wichtig ist es für Dich, auch digital aufzuräumen (Stichwort “Digital Decluttering”)?

Ich glaube ans digitale Aufräumen, denn sonst wird der Input von alleine immer mehr. Ich bin zum Beispiel bei E-Mails sehr konsequent und bestelle alles ab, was mich nicht brennend interessiert. Außerdem verfolge ich eine konsequente Inbox-Zero-Politik und Aufgaben verwalte ich mit meinem To-Do-Management-Tool Nirvana. Das hilft mir, im Kopf halbwegs aufgeräumt zu sein.

Du hast ja Deinen Konflikt mit Social-Media-Aktivitäten erwähnt. Wie gehst Du dem Verhalten der Menschen dort um?

Die sozialen Medien nutzen Patrick und ich längst nicht so intensiv wie andere Blogger oder Influencer. Das liegt daran, dass wir niemandem auf den Nerv gehen wollen und sowieso eher introvertiert sind. Außerdem wissen wir ja um das ungesunde Potenzial dieser Plattformen.

An fiese Kommentare musste ich mich auch gewöhnen. Sie bleiben länger im Gedächtnis als das Lob, das wir auch oft erhalten. Hater befeuern jedoch die ohnehin vorhandenen Selbstzweifel (“Was kann ich eigentlich? Ist meine Arbeit gut genug?”). Ich muss mich immer wieder daran erinnern, dass die überwiegende Masse unserer LeserInnen stumm bleibt. Ich selbst schreibe schließlich auch fast nie Kommentare, obwohl ich Texte gut finde.

Das “Grundrauschen im Kopf”, das viele HSPs beschreiben, wird ja durch digitale Reize nicht leiser. Was tust Du, um Dich davon frei zu machen? Ich versuche zum Beispiel jeden Tag eine Viertelstunde lang bewusst “nichts zu tun”, also einfach nur da zu sein, ohne jeglichen Input.

Ich meditiere täglich für etwa zehn Minuten. Außerdem kann ich beim Sport meinen Kopf gut abschalten. Auf Spaziergängen lasse ich mein Handy oft zu Hause und auch, wenn ich mich mit FreundInnen treffe. Denn nichts ist schlimmer, als wenn jemand im Gespräch ständig auf sein Smartphone guckt.

Danke Dir, liebe Jasmin, für dieses spannende Interview!

 

Wie gehst Du mit digitalen Reizen um? Erzähl’ es mir gern in den Kommentaren!

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